Bei diesem Film muss ich jetzt wirklich vor Spoilern warnen, wer also den Film noch nicht gesehen hat, sollte vielleicht doch lieber erst den Film schauen. Die Story mag überschaubar erscheinen, aber die Symbolik ist hier sehr komplex und macht den Film vielschichtig. Dieser faszinierende Film gehört zu meinen absoluten Favoriten, allerdings bringe ich es nur selten über mich, ihn in den Player zu legen. Doch wenn es je einen Film mit einer Botschaft gab, dann ist es Dil Se.
Shah Rukh Khan spielt hier den Radiojournalisten Amar, der nach Nordindien reist, um die Menschen über den bevorstehenden 50. Jahrestag der indischen Unabhängigkeit zu interviewen. Schon bevor er seinen Zielort erreicht, trifft er auf die geheimnisvolle Meghna (Manisha Koirala), in die er sich, buchstäblich, auf den ersten Blick verliebt. Obwohl sie ihn stets auf Abstand zu halten versucht, laufen sich die beiden ständig über den Weg. Amar verfolgt sie in seiner jugendlichen Besessenheit, doch was er nicht weiß, Meghna gehört zu einer terroristischen Gruppierung, die ein Attentat in Delhi plant. Das ihre Liebe angesichts von Terror und Hass keine Zukunft hat, ist ein langer und steiniger Weg, den Amar teilweise höchst schmerzhaft zurücklegt. Doch er gibt nicht auf…

Achtung Spoiler! Weiterlesen auf eigene Gefahr!

Obwohl Amar nach mehrmaligen Nachstellungsversuchen eindrücklich von Meghnas Kumpanen verwarnt wird (die Action und Kampfszenen sind hier brutal realistisch, Angst und Schmerz so echt, da tut das Zuschauen schon weh), sucht er weiter nach ihr und entdeckt sie schließlich bei einem Außeneinsatz in Ladakh. Da praktischerweise der Bus zurück eine Panne hat, haben die beiden Gelegenheit, miteinander zu reden. Diese teils emotional aufwühlenden, teils scherzhaft-neckischen Szenen zeigen die Widersprüchlichkeit der Beziehung, aber auch, dass Meghnas Abweisung einzig in ihrer nicht vorhandenen Zukunft begründet liegt. Wiederum verschwindet sie mitten in der Nacht spurlos und lässt Amar seelisch verletzt und frustriert zurück.

Daheim in Delhi versucht Amar wieder ins normale Leben zurückzufinden, lässt sich widerspruchslos von seiner Familie verkuppeln und tut sein Bestes, mit seiner zukünftigen Braut eine gemeinsame Beziehung aufzubauen, bis Meghna plötzlich wieder in sein Leben tritt und es auf den Kopf stellt. Denn nun ist Amar nicht mehr so blauäugig und vermutet, dass er und seine Gefühle nur benutzt werden. Es kommt zur Konfrontation der beiden, wo er endlich ihre Geschichte erfährt und sie anfleht, ihre Bestimmung aufzugeben und mit ihm zu gehen. Doch gegen jahrelangen Hass und eingeimpfte Parolen kommt seine Liebe nicht an. Wieder funken ihre Mitstreiter dazwischen und Amar muss um sein Leben kämpfen. (Trivia: Shah Rukh hat sich in dieser Szene bei dem Versuch, die Szene dramatischer zu gestalten und mehr Staub aufzuwirbeln, den großen Zeh gebrochen, als er gegen einen vermeintlichen Stein trat) Als endlich auch die Polizei auf den Plan tritt, kommt es zum großen Showdown.
Dil Se war nach Main Hoon Na mein zweiter indischer Film und beinahe auch mein letzter. Erstens kam er unerwarteterweise auf Hindi mit Untertiteln, damals vor 5 Jahren ein Unding für mich, und dann dieses Ende, bei dem ich erst mal eine halbe Stunde sprach- und fassungslos vor der Mattscheibe saß. Glücklicherweise habe ich den Film, ehe ich ihn als Fehlkauf zurückschicken wollte, doch noch probeweise in den Player gelegt und es kam, wie es kommen musste. Ich verliebte mich bei den ersten Sätzen in die Stimme von Shah Rukh und blieb hängen. Sein Hoi brachte etwas in mir zum schwingen und ehrlich Mädels, nie sah er besser aus als in Dil Se. Diese Haare… Außerdem kam zwei Tage später K3G und meine heile Bollywelt war wieder in Ordnung. Ich habe aber lange gebraucht, bis ich den Film ein zweites Mal anschauen konnte.

Dil Se. Für mich ein Film der Superlative. Tolle Landschaftsaufnahmen, geniale Kameraführung, großartige Musik, eine straffe Inszenierung und nicht zuletzt eine fantastische schauspielerische Leistung der beiden Hauptdarsteller Shah Rukh Khan und Manisha Koirala. Die spannungsgeladene Atmosphäre, die sich von Anfang an kontinuierlich aufbaut und den Zuschauer bis zum unvermeidlichen Ende mitreißt, ist grandios und habe ich so noch nicht wieder bei einem Film erlebt. Eigentlich eine simple erscheinende (erst einseitige) Liebesgeschichte, die sich zu einem Liebesdreieck ausdehnt, aber vor dem ernsten Hintergrund der politischen Querelen in Nordindien, angesichts terroristischer Anschläge und Polizeigewalt keine Zukunft hat. Doch Ratnam schafft den Spagat und lässt den Zuschauer in einer realitätsnahen Inszenierung mitfühlen und mitleiden, die mit dem gewöhnlichen rosaroten Bollywoodfilm nichts gemein hat. Die Liebe von Seiten Amars ist aggressiv und obsessiv, die Szenen zwischen ihm und seelisch vorbelasteten Meghna tun körperlich weh und es braucht bis zum Ende des Films, bis Amar endlich eine Antwort auf seine Frage bekommt, „Sag einmal, das du mich liebst.“
Man muss den Film schon mehrmals schauen, um all die Symbole und Hinweise zu erkennen und zu deuten, die von Anfang an zeigen, dass diese unmögliche Liebe keine Chance hat und für beide Seiten höchst schmerzhaft ist. Sei es durch Symbolik in den Szenen oder verwendete Liedtexte, Hintergründe und Farben. Gleich zu Beginn des Films symbolisiert der Stacheldrahtzaun die Unvereinbarkeit, trennend und abgrenzend, verletzend in beide Richtungen. Wie Indien und seine Randbundesstaaten können Amar und Meghna nicht ohne einander leben, aber auch nicht miteinander. Gleich von Beginn an bereitet uns schon der dramatisch bilderlose, mit Kindergesang und Kampfgeräuschen unterlegte Vorspann auf das vor, was uns erwartet. Selbst in den leichteren Szenen bleibt diese unterschwellige Spannung spürbar. Es folgt der Bahnsteig, wo nach einer kurzen, eindrucksvollen Begegnung der Zug von Meghna wiederum symbolträchtig in die entgegengesetzte Richtung entschwindet, während Amar zurückbleibt.

Wie Shah Rukh es mit seinen ausdrucksstarken Augen und seiner straffen Körpersprache schafft, diese besessene Liebe glaubwürdig rüberzubringen, ist das Geheimnis dieses Films. Auch wer nicht an das Konzept der Liebe auf den ersten Blick glaubt, nimmt es ihm ab, sich schon nach einem flüchtigen Blick so verliebt zu haben, das er dem Mädchen, das sich buchstäblich mit Händen und Füßen wehrt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachläuft. Es geht soweit, das Amar bereit scheint, alles dafür zu opfern, Karriere, Familie, Verlobte, ja selbst sein Leben. Und das so überzeugend, das zu keinem Zeitpunkt des Films Zweifel daran aufkommen. So intensiv und emotional aufwühlend sind die Szenen zwischen den beiden, das man fast die Gewalt darin spüren kann. Genauso faszinierend sind die Rahmenhandlungen, seien es seine Kollegen in Nordindien oder Delhi, die von Amars Familie stattfindenden Kupplungsversuche und anschließenden Verlobungsvorbereitungen, bis hin zu den Bemühungen der Polizei, der Terroristen habhaft zu werden. Der Wandel vom unbekümmerten, lebenslustigen Jungen, der keine Angst hat, in ein Terroristenausbildungslager zu marschieren, hin zu einem von einer zerstörerischen Liebe getriebenen und zerrissenen Mann, ist Shah Rukh völlig überzeugend gelungen. Im Gegensatz zu früheren Rollen des obsessiven Liebhabers ist es hier keine nach außen gerichtete Zerstörung, diesmal geht sie nach innen und das sich in seinem Gesicht abzeichnen zu sehen, geht unter die Haut.

Apropos Verlobung, Amars Verlobte wird von der damals debütierenden Preity Zinta gespielt, ihre Szenen mit Shah Rukh sind wunderbar leicht und unbeschwert und vermitteln dem Zuschauer die trügerische Hoffnung einer glücklichen Zukunft für Amar, wenn er sich von der hoffnungslosen Liebe zu Meghna lösen könnte. Ihre ganz normalen jugendlichen Schlagabtausche lindern ein wenig die Spannung. Preity ist in ihrer naiven Unbekümmertheit ein absoluter Kontrast zu Meghna, fesselnd gespielt von Manisha Koirala, der man die Trauer, Verzweiflung und Hass in ihren Augen abnimmt. Ungeschminkt und doch hinter einer antrainierten Maske spielt sie die Rolle bis tief unter die Haut, das Shah Rukh manchmal etwas überfordert erscheint. Doch wider Erwarten nimmt man ihm seine Liebe ab, verzeiht ihm sogar seine stalkermäßigen Verfolgungen Meghnas, er behält die Sympathien auf seiner Seite.
Abgerundet wird der Film von wunderschönen Landschaftsaufnahmen, besonders in den Songs. Santosh Sivan schafft es, aus simplen Verfolgungsjagden in der Stadt, Szenen in Wüste und Dschungel, wunderschöne visuelle Erlebnisse zu zaubern. Die Politik und daraus resultierende Probleme werden in die Story eingebaut und wirken nie belehrend oder wertend. Seien es die Terroristen, die zu Wort kommen, Meghna, die ihre Geschichte erzählt oder die entglorifizierte Armee und Polizei, es wird keine Stellung bezogen, stattdessen ist es dem Zuschauer überlassen, was er aus dem Film mitnimmt.

Zum Ende wird immer offensichtlicher, wo das Ganze hinführen wird, auch wenn man sich weigert, es zu akzeptieren. Die vorbereitenden Szenen, Meghnas Rückblicke, als Amar sie zur Rede stellt, Amars Zusammenstoss (der zweite, er darf sich in der ersten Hälfte schon mal brutal verprügeln lassen) mit den Terroristen und anschließende Konfrontation mit der Polizei, führen bis hin zur finalen Szene von Amar und Meghna. Am schlimmsten ist für mich die letzte Einstellung, als Amar Meghna in die Arme nimmt und die Augen schließt, vollends gewiss, endlich seinen Frieden zu finden. Auf die einzige Art, die ihm noch übrig bleibt. „Wenn du nicht mit mir kommen kannst, dann nimm mich wenigstens mit dir…“


Dil Se Interview – MyVideo

Kommen wir zur Musik und der gebührt bei diesem Film besondere Aufmerksamkeit. Ein Highlight von AR Rehman, das schon für sich genial ist, auch ohne den Film zu kennen. Die grandios umgesetzten Songsequenzen sind allerdings das perfekte Sahnehäubchen auf dem gelungenen Kuchen. Die fünf Filmfare Awards für Musik, Text, Choreografie, Playbacksänger und Kamera sind alle verdient. Jedes der Lieder ist einfach perfekt und dabei außerhalb der Handlung angesiedelt. Ohne krampfhafte Versuche, sie in die Story einzubauen, sind es rein surreale Sequenzen, die die Symbolik der unerfüllbaren Liebe weiterführen. Gleich der erste Song entführt uns von einem tristen, dunklen Bahnhof zum unwahrscheinlichsten Szenario, dem Dach eines fahrenden Zuges.

Chaiyya chaiyya, einer der meistdiskutierten Songs des Hindikinos, hat einen mitreißenden Rhythmus, passend zu den stampfenden Geräuschen des fahrenden Zuges und interpunktiert von gelegentlichen Pfeifen der Lokomotive. Die Umsetzung ist einmalig und so nie wieder versucht worden. Vier Drehtage auf einem fahrenden Zug, allein bei dem Gedanken werde ich seekrank. Doch Farah Khan hat sich hier selbst übertroffen. Obwohl einer der realistischsten Songs ohne dramatische Szenen und Kostümwechsel, bleibt er allein durch die Choreografie, die Kameraführung und nicht zu vergessen, die enthusiastischen Tänzer, allen voran Shah Rukh und Malaika, im Gedächtnis. Licht wechselt mit Schatten, liebliche Landstriche werden von schroffen Abgründen abgelöst. Eine weitere Symbolik. Auch den Text sollte man sich durchlesen, etwas, was ich sonst nicht immer tue. Shah Rukh und Malaika Arora haben hier etwas Unvergängliches geschaffen. Wenn man dann noch bedenkt, das Shah Rukh ohne Sicherung auf den Waggons und der Lok herumgeturnt ist, was heute schon rein versicherungstechnisch unmöglich ist, macht das den Song noch spektakulärer.
Dil Se Re mit seinen perfekt getimten Explosionen vor wechselnder Kulisse ist ein eingängiges Lied mit einer umwerfenden Kameraführung, vor unmöglich kombinierten Kulissen und einem Shah Rukh, der mit dem Feuer spielt. Allein der explodierende Blätterhaufen ist genial. Auch hier ist der Text interessant. Und wieder Symbole wie die Vergänglichkeit der Natur, die Brücke über dem reißenden Wasser, zerbrochene Armreifen und verlorene Perlen einer Kette.

Satrangi Re ist eine reine Traumsequenz, sehr poetisch und so vielschichtig, die man erst nach mehrmaligem Sehen versteht. Die letzte Zeile des Songs taucht im Abspann auf, das ganze Lied ist eine Vorbereitung auf das Ende. Der Text wiederum, die verwendeten Farben, hauptsächlich weiß als Farbe der Trauer, das Netz, in dem sich beide verfangen, die letzte Einstellung, als Amar in Meghnas Armen liegt. Überhaupt der ganze Tanz der beiden, der mich an Motten um eine brennende Kerze erinnert hat. Als ich diesen Song das erste Mal sah, hatte ich eine Gänsehaut. Einziger Fehlgriff, das menschliche Kondom…

E Ajnabee ist ein Song ohne direkte Songsequenz dazu, der immer dann läuft, wenn Amar beim Radio ist (Als Radiomoderator hätte Shahrukh auch eine steile Karriere hinlegen können). Die Rahmenhandlung ist zweigeteilt, einmal Meghna, die ihn im Radio hört und auf der anderen Seite Amar im Studio, der noch immer nicht aufgehört hat, nach seiner Liebe zu suchen. Ein eingängiger Song, der ihre Gefühle widerspiegelt.
Und Jiya Jaley, der Song, der Santosh Sivan endgültig davon überzeugt hat, das Shah Rukh der richtige für Asoka ist. Kein Einwand meinerseits. Ein wunderbar sinnlicher Song mit Shah Rukh und Preity, bei dem sogar ein wenig Hoffnung aufkeimt, das Amar zur Besinnung kommt und ein Leben mit Preity führt. Wunderschön inszeniert in dem Boot, nicht zu vergessen die Einstellung, als Shah Rukh vor den Elefanten tanzt, ich liebe Elefanten…

Ich könnte Bände über den Film schreiben und entdecke doch bei jedem Mal schauen etwas Neues. Bedauerlich, das es hierzu kein Making of in Buchform gibt, dieser Film hätte es verdient. Kein eskapistischer Film für zwischendurch, aber ein Muss für jeden, der Shah Rukh mal in einer anderen Rolle sehen möchte.

PS: Ein grosses Lob für den Kostümdesigner des Films, ich liebe Shahs Klamotten in dem Film…


Dil Se – MyVideo