A modern classic

Subhash K. Jha

Dil Se ist kein ,realistischer‘ Film. Es ist ein erwachsener, eskapistischer Film, in dem alle Rechtfertigungen bezüglich der Präsenz von Liedern, des Rollenverhaltens und der Handlungslogistik völlig abgeschafft werden. Mani setzt die Reife seiner Kinobesucher stillschweigend voraus.
Das Jahr 1957. Mother India kommt heraus. Jeder im Land reißt den Film in winzige Fetzen. Ein einflussreicher Kritiker glaubt, dass Mehboob Khan Nargis mit der Verwandlung in ein altes Weib einen Bärendienst erwiesen hat. Woher soll er wissen, dass die Rolle des alten Weibes der Schauspielerin’ Schlüssel zum ewigen Ruhm ist. Ein anderer Kritiker hält Mehboob Khan vor, solch einen langen und düsteren Film ohne Comic Relief zu drehen. Und wieder ein anderer fachkundiger Cineast tat Mehboob Khan verächtlich ab, seinen früheren Aurat wieder aufzuwärmen und ihn als Mother India zu präsentieren. Berichten zufolge erlitt Mehboob Khan einen Zusammenbruch, nachdem sein Film so schonungslos zerrissen wurde. Der arme Kerl lag vierzehn Tage im Bett.

Das Jahr 1998. Dil Se wird veröffentlicht. Jeder Kritiker hatte seine oder ihre Meinung zu dem Film. Zum Glück ist Mani Ratnam nicht unter dem Druck der Kritiker zusammengebrochen. Doch würde ich bedenkenlos behaupten, dass Dil Se das Potenzial hat, eines Tages als einer der Klassiker des populären Hindikinos anerkannt zu werden. Und ja, ganz sicher hat Manisha Koirala das Zeug zu einer klassischen Schauspielerin in der Tradition von Nargis und Madhubala.

Ich weiß, dass viele meiner gutunterrichteten kinoerfahrenen Freunde in Mumbai darüber lachen werden, was sie als meine Überreaktion auf einen Film betrachten, der innerhalb von Tagen nach seiner Veröffentlichung kritisiert, verdammt und in die Kategorie ‚Katastrophe‘ verbannt worden ist.
Aber macht sich Dil Se wirklich schuldig, die Interessen des Publikums verraten zu haben, wie uns gesagt worden ist? Und wer konstruierte eigentlich diese Erwartungen an gewisse Filme? Nicht Mani Ratnam. Hat er ein Interview oder eine Angabe zum Lob seines Films gegeben? Nah. Überlassen Sie solchen Tamtam und Eigenwerbung den Saawan Kumars von Bollywood, die großes Vergnügen darin finden, die Medien zu benutzen, um ihre eigenen angeblich ‚klassischen‘ Schöpfungen mit Schmeichelei zu überschütten.
Ramesh Sippy sagte nie, dass sein Sholay ein Klassiker sei. Genauso wenig haute Mani Ratnam auf den Putz, um Dil Se als den Film vorzuschlagen, der Titanic von der Position der Nr. 1 an der Kinokasse vertreiben wird.
Es sind wir – die besorgten Kinobesucher, die vermuteten, dass Mera Naam Joker, 1942 – A Love Story und jetzt Dil Se monumentale Kunstwerke sein würden. Und dass ihre Schöpfer Raj Kapoor, Vinod Chopra und Mani Ratnam unfehlbare Halbgötter sind – die die Filme im Stich lassen und nicht umgekehrt. Die Zeit hat bewiesen, dass Mera Naam Joker tatsächlich der erwartete Meilenstein war. Ich habe das Gefühl, dass auch Dil Se im Laufe der Zeit eine ähnliche Änderung in der Wahrnehmung erleben wird…

Manis Stärke. Shah Rukh Khan denkt, dass Mani Ratnam Gott ist, aber er weiß es nicht und weiß Gott, dass er Mani Ratnam ist?! Sicher ist Mani mit einer besonders faszinierenden Karriere gesegnet worden. Ich meine, schaut den Mann nur an! Er ist heute einer der erfolgreichsten, produktivsten und bedeutendsten Filmemacher Indiens, der die Filme macht, die er macht, einfach weil er es will. Und wenn zufällig der Großteil von Mani’s Filmen Geld eingebracht hat, dann ein Pfui an die lautstarken Kritiker, die denken, das Mani’s Filmkunst nicht mehr als ein Vorwand für Glanz und technische Zauberei sei.
Diejenigen, die glauben, dass Mani Filme allein um des Geldes wegen macht, haben sein Gesamtwerk nicht unter die Lupe genommen. Welche Vielfalt! Welche Wandlungsfähigkeit! Welche Klasse und Unvergänglichkeit! Vom qualvoll majestätischen Hochzeitsmelodrama Mouna Ragam im Jahr 1986 zum überwältigend vollendeten Unterweltepos Nayakan (Dayavan auf Hindi) in 1987, der hervorragenden Darstellung von Bigamie in Agni Nakshatram im Jahre 1988 (der als Vansh in Hindi neu gedreht wurde), der liebevollen Ode an die Unschuld und Verletzlichkeit in Anjali in 1990, bis hin zur geheimen Untersuchung der Politik des Terrorismus und Kommunalismus in Roja und Bombay. Das Repertoire von Ratnam liest sich wie eine Liste von Meilensteinen des indischen Films seit den 80er Jahren.
Einverstanden, seine ehrgeizige politische Parabel Iruvar, herausgebracht im letzten Jahr, schaffte es nicht, sich ins stichhaltige Kino umsetzen zu lassen. Mani denkt, dass Iruvar sein bis dato bester Film ist. Damit bin ich nicht einverstanden. Ich denke, Mani’s erster Film in Hindi, Dil Se, veröffentlicht im letzten Monat, ist sein bis dato bester, sehr behutsam skizzierter und elegant ausgeführter Film.

Vielleicht ist es die Gegenwart des Lyrikers Gulzar. Allerdings ist Dil Se mehr Dichtung als Kino. Die Handlung bewegt sich ihn einem vierzeiligen Rhythmus von einer Episode zur nächsten, bis wir das unvermeidlich tragische Finale der Liebesgeschichte erreichen, das die todgeweihte Resonanz legendärer Romanzen ausdrückt.
Shah Rukh Khan und Manisha Koirala. Wer sonst könnte einen wahnsinnigeren Majnu und eine ätherischere und flüchtigere Laila spielen? Sicher hätte Dil Se mit keinen anderen zwei Schauspielern funktioniert, außer Dilip Kumar und Madhubala. Während Mani wie kein anderer Regisseur (außer in gewissen Ausmaß Subhash Ghai in Pardes) die nervöse Energie von Shah Rukh zügelt, ist Manisha eine Offenbarung. In jedem Sinne dieses Wortes.
In der Eröffnungsszene, als der Journalist Amar (Shah Rukh) einen Blick auf eine zitternde, kauernde Gestalt auf einem gottverlassenen Bahnhof in einer froststarren Winternacht erhascht, fängt der Film den übersprudelnden atemberaubenden Moment in Karel Reisez’ The French Lieutenant’s Woman wieder ein, in dem, unzugänglich für alle menschlichen Gemeinschaften, die mysteriöse Frau Meryl Streep in den Wellenschlag von Lyme Regis starrt, als Jeremy Irons‘ Blick auf diese Gestalt einsamer Glorie in der Ferne fällt.
Als Shah Rukh Khan, der einen Radiojournalisten spielt (Radio, da Fernseh- oder Printjournalismus der Figur nicht dem Zugang auf dieselbe altertümlich nostalgische Romantik ermöglicht hätte, noch ihm die Chance gegeben hätte, seine Gefühle aus den abgelegensten und unzugänglichsten Landesteilen zu übermitteln), die verlassene Gestalt auf dem Bahnhof sieht, werden die hämmernden Wellen von Lyme Regis in The French Lieutenant’s Woman verinnerlicht. Wir spüren augenblicklich den unausgesprochenen Aufruhr der tragischen Heldin.
Wer ist dieses berückend schöne Mädchen? Wir werden augenblicks und endgültig neugierig, fasziniert, hypnotisiert und betört, so sehr, dass wir von Anfang an mit Amar’s Suche nach der trügerischen Liebe eins werden. Während er von einem von Terroristen heimgesuchten, schockierenden und dennoch atemberaubenden Ort in Indien zum anderen reist, sind wir während der ganzen Reise bei ihm. Es ist die Schönheit von Dil Se. Das ist aber auch sein verhängnisvolles Manko. Aber davon später mehr.
Wenn Kritiker im Ausland die Eröffnungsszene von Meryl Streep in The French Lieutenant’s Woman als eine der stärksten und dauerhaftesten Bilder des Kinos der 80er Jahre beschrieben, dann ist Manisha Koirala’s gestrandete, verlorene, einsame und umwerfende Schönheit auf dem Bahnhof in Dil Se eines der stärksten und dauerhaftesten Bilder des indischen Kinos der 90er Jahre. War Kajol wirklich zuerst für Dil Se vorgesehen? Nah! Muss ein Fall von Personenverwechslung gewesen sein.

Von Manisha gespielt wird die Terroristin Teil der hypnotisierenden natürlichen Schönheit von Mani’s Film. Seien es die schneebedeckten Berge von Ladakh oder die eindrucksvolle Erhabenheit und Geschäftigkeit von New Delhi, Manisha scheint durch Gottes Meißel in die natürlichen Umgebungen eingemeißelt worden zu sein. In Dil Se ist sie die ultimative Traumfrau – tragisch und großartig unerreichbar. Es bleibt abzuwarten, wie gut Tabu ihre Karte der menschlichen Bombe in Hu Tu Tu ausspielt, Gulzar’s Mär über den Terrorismus.
Geschickt schneidet Mani von der Eröffnungsmontage eines blauäugigen Shah Rukh, der mit garam chai (heißem Tee) zur einsamen Jungfer in Nöten eilt (nur um ihre Gestalt im Fenster des abfahrenden Zuges entschwinden zu sehen) geradewegs zum mittlerweile berühmten, ungestümen Chaiyya Chaiyya auf dem Dach eines Zuges. Das Model Malaika Arora gibt diesem erotischen Techtelmechtel auf dem Dach im Schoße der Natur ein ganz neues Konzept der Wiederverwertung. Der Gegensatz zwischen Manishas verlorener Gestalt in der Anfangsszene und der ausgelassenen Gestalt (und Junge, was für eine Figur!), die verführerisch mit einem Haufen Männer auf dem rutschigen Zugdach herumtollt, ist beträchtlich. Tatsächlich erinnert uns der hüftschwingende kameranahe Tanz an die erotische Songsequenz in einem Swimmingpool in Mani Ratnam’s früheren Film Agni Nakshatram.
Das soll aber nicht heißen, dass sich Mani für die fantastische Qualität der Songs in Dil Se entschuldigt. Er durchschaut die Absurdität, Lieder in einem Film einzuarbeiten. Anstatt ihretwegen entschuldigend, verlegen oder halbherzig zu erscheinen, macht Mani das Beste aus den Liedern in Dil Se. Von der felsig-sandigen Leidenschaft in Pastell in Satrangi re zu den unverfälschten Leidenschaften von Jiya jalen jaan jalen (verfilmt mit der entwaffnend spontanen und erfrischend hübschen Preity Zinta in den ergiebigen, warmen, einladenden, wundersamen Gewässern von Kerala) sind die Lieder ein zusätzliches Vergnügen.
Doch passen sie in die Geschichte von Liebe und Leidenschaft während der Zeiten des Terrorismus? Nein und ja. Nein, weil Mani sie im Gegensatz zu anderen publikumsfreundlichen Filmschöpfern nicht als Fluchten in die Fantasie auslegt, indem er seine Hauptdarsteller ihre Augen schließen lässt, um eine Ausflucht ins Traumland anzudeuten. Dementsprechend erscheint eine Liedsequenz wie Dil Se Re, wo wir die Liebenden buchstäblich durch Feuerringe laufen sehen, seltsam interpolatorisch.
Während wir Dil Se sehen, vergessen wir, dass Mani Ratnam’s Filme nicht zur neorealistischen Garde gehören. Dil Se ist kein realistischer Film. Es ist ein erwachsener, eskapistischer Film, in dem alle Erklärungen bezüglich der Anwesenheit von Liedern, des Rollenverhaltens und der Handlungslogistik komplett beseitigt werden. Mani setzt die Reife seiner Kinobesucher voraus. Und dies könnte sich als das eine fatale Manko des Films erweisen.
Betrachtet vom realistischen Standpunkt und verglichen mit der Politik des Terrorismus in Govind Nihalani’s Drohkaal scheint Dil Se nicht mehr als ein Titanic auf Rädern zu sein. Das Thema der Liebe während der Krise ist die Hauptbeschäftigung von vielen kreativen Künstlern gewesen, von Gabriel Garcia Marquez in seiner berühmten Novelle Love During The Time Of Cholera bis hin zu Kalpana Lajmi’s Fernsehserie Dawn. Zweifellos bringt die Liebesbeziehung zwischen dem umherziehenden Journalisten und der schwer fassbaren Wunderfrau die elegante Tragödie von Garcia Marquez rüber.
Jetzt ist Mani Ratnam an der Reihe. Er beschreibt Dil Se als letzten Film einer Trilogie über persönlichen Beziehungen vor der heutigen politischen Kulisse Indiens.
Bewusst oder unbewusst bezieht Mani Ratnam seine Symphonie der stummen Schreie aus vielschichtigen und heterogenen Kunstwerken, von The French Lieutenant’s Woman bis zu The Devil’s Own von Alan Pakula. Die Delhier Ouvertüre in der zweiten Hälfte von Dil Se ähnelt verdächtig der Struktur von The Devil’s Own, wo der IRA-Mann Brad Pitt aus Irland nach New York kommt und Heim, Gastfreundschaft und Wärme bei einem ahnungslosen Polizisten sucht, gespielt von Harrison Ford. In Dil Se genießen Meghna (Manisha) und ihre Partnerin Meeta (Mita Vashisht) die Gastfreundschaft von Amar und seiner großen innig verbundenen Familie der oberen Mittelschicht, einschliesslich alberner Kinder, besorgter Eltern und lebenslustiger Oma (das Strickmuster aus Hum Aapke Hain Koun, Dilwale Dulhania Le Jayenge schlägt wieder einmal zu). Es gibt sogar ein wenig Action aus Jean Claude Van Damme’s Thriller Sudden Death, in dem die Vorbereitungen eines Hockeyspiels von den Vorbereitungen der Parade zum Tag der Republik in New Delhi ersetzt werden.
Der verschobene Nervenkitzel funktioniert besser als man sich vorstellen würde, aus dem einfachen Grund, dass das Kino laut Mani Ratnam nicht länger kulturell oder ästhetisch gebunden ist. Während sein Held in Dil Se, der Journalist, von einem Gebiet zum anderen reist, stößt er auf dieselbe verdächtig normal aussehende Gruppe von Kämpfern, die bei Nacht und Nebel aus dem Nordosten nach Delhi ziehen, mit sich das Gepäck einer traumatisierten Vergangenheit und einer irreparablen Gegenwart herumtragend.
Mani geht näher darauf ein und erweitert die Vorstellung des Terrorismus in eine großartige Geschichte von Liebe und Herzeleid, die Treue, Loyalität und zwischenmenschliche Gefühle der beiden Hauptfiguren auf eine Art hinterfragt, die gleichzeitig spannend und realistisch ist, im filmischen Sinn dieser beiden Begriffe.
Einerseits machen die romantischen Ouvertüren des Helden ihn zu einem modernen Majnu. Andererseits reagiert er auf seine plötzliche Konfrontation mit dem politischen Terrorismus wie ein normaler, arbeitender Bürger, mit Schrecken, Bestürzung und heftigem Unglauben.
Mani möchte, das wir die politische Realität des unabhängigen Indiens durch seine bezaubernde künstlerische Vision von Musik, natürlicher Schönheit, surrealen Tänzen und zivilisationsbedingten Konflikten betrachten.
Es ist ein bisschen viel verlangt, in Ordnung. Aber andererseits ist Dil Se in jeder Hinsicht ein großer Film.