So, damit wir mal wieder alle auf den Boden der Tatsachen kommen, hier ein ganz böser, fieser Shah Rukh:

Es mutet an wie die simple Liebesgeschichte zweier Paare und könnte eine ganz normale Verwechslungskomödie sein, in der sich die beiden Hauptdarsteller rein zufällig ähnlich sehen. Nicht ungewöhnlich für Bollywood. Der reiche Geschäftsmann Madan Chopra (Dalip Tahil), der auch gern mal die Rennpiste unsicher macht, nennt zwei hübsche Töchter sein eigen. Und beide sind verliebt. Seema (Shilpa Shetty) liebt heimlich ihren Collegefreund Ajay (Shah Rukh Khan), von dessen Existenz der Vater nichts wissen darf, da nicht standesgemäß, und Priya (Kajol), die sich nach anfänglichen Ressentiments in den Rennfahrer Vicky Malhotra (dito Shah Rukh Khan) verliebt. Diese Liebe wird vom Vater gebilligt, da Vicky es bei einem Rennen schafft, sich seinen Respekt zu verdienen. Nichts von Seemas Liebe zu einem armen Studenten ahnend, will sie der Vater mit dem Sohn eines Geschäftsfreundes verheiraten. In ihrer Not wendet sie sich an Ajay, der nur eine Lösung findet: gemeinsamer Selbstmord.

Achtung Spoiler!!! Ihr solltet den Film wirklich erst gesehen haben, bevor ihr hier weiter lest, denn der Film wirkt nur in völliger Unkenntnis…

Bis hierhin ist dieser Film ein ganz normaler Bollywoodfilm, mit ganz normalen Konstellationen. Bis Ajay, der nach dem Schreiben ihrer Abschiedsbriefe Seema erklärt, das wäre nur ein Test ihrer Liebe gewesen (wobei er nur den seinen zerreißt), sein wahres Gesicht zeigt und diese beim vermeintlichen Besuch des Standesamtes kurzerhand vom Dach des Gebäudes und damit aus dem Film wirft. Damit nimmt der Film ganz unerwartet eine dramatische Wendung und wird plötzlich zum Thriller. Kaltblütig verlässt er den Tatort, ohne seinem Opfer einen zweiten Blick zu gönnen, wirft Seemas Abschiedsbrief in den Briefkasten und geht. Dieser Mord kommt so unerwartet und vermeintlich grundlos, so kurz nach einem netten Liebessong der beiden, dass die Intermission eine willkommene Pause zum Luftholen bietet.

Ganz ehrlich, wer von euch hat da schon gewusst, oder auch nur geahnt, das Ajay und Vicky dieselbe Person sind, anstatt zufällige Zwillinge? Denn nur wenige Augenblicke später erscheint Vicky mit Priya und spielt absolut glaubhaft den trauernden Freund der Schwester. Bis hier hin erscheinen uns beide Männer als eigenständige Persönlichkeiten und damit meine ich nicht mal die unterschiedlichen Augenfarben. Es gibt keinen einzigen Anhaltspunkt, das sie ein und derselbe sind.
Erst beim nochmaligen sehen bekommt alles eine andere Bedeutung. Priyas fast schon orakelhafte Bemerkung, Seema würde aus dem zwanzigsten Stock fallen, wenn sie Vicky träfe, Ajays Blicke auf Seema, wenn er sich unbeobachtet fühlt, seine affektierte Fiesheit und als Krönung seine letzten Worte an Seema, bevor er sie fliegen lässt. Ajays Babyface mit seinen toten Augen ist beängstigend. Dagegen der draufgängerische Vicky, der in Ansätzen zeigt, was aus ihm hätte werden können. Seine gezeigte Liebe zu Priya ist eine ganz andere, als die Ajays für Seema. Die Körpersprache der beiden Figuren ist absolut different. Irgendwann beschließen wir, Ajay nicht zu mögen, Vicky dagegen schon.
Nach der Intermission gehen wir mit der Frage an den Film heran, Warum? Was ist das Motiv und warum dieses aufwändige Doppelspiel des Protagonisten? Denn mit dem Mord hat Shah Rukh bewiesen, das er hier die Rolle des Bösen spielt. Und nicht nur einfach böse, sondern teuflisch. Man verführt nicht einfach die eine Tochter und wirft sie vom Dach, während man gleichzeitig die andere verführt und sich an ihren Vater heranmacht, um ihm seine Firma zu nehmen. Eigentlich sollte man ihn ab hier verdammen und der Gerechtigkeit viel Glück wünschen. Eigentlich sollte man auf der Seite Priyas stehen, sich über jeden Hinweis freuen, den sie bekommt. Und eigentlich sollte man dem Mörder am Ende seine gerechte Strafe wünschen. Doch was tut das Publikum?  Etwas ganz und gar unerwartetes und im Grunde fragwürdiges. Es verfolgt fasziniert Vickys Ränkespiel und bangt mit ihm, er möge doch bitte bei seinem Versuch, seine Spuren zu verwischen, erfolgreich sein. Wäre das auch der Fall gewesen, hätte jemand anderes diese Rolle gespielt? Wohl kaum. Der große Bonus dieses Films ist SRKs Charme, der das Publikum hereinlegt und auf seine Seite zieht, wider besseres Wissen.

Weiter mit dem Film. Die einzige, die nicht an Seemas Selbstmord glaubt, ist ihre Schwester Priya. Sie kennt die Höhenangst ihrer Schwester und findet das Mangalsutra, das diese kurz vorher gekauft hat und beweist, dass sie heiraten wollte. Sie befragt ihre Freunde am College und wird auch fündig. Denn Seemas heimliche Liebschaft hatte sehr wohl Zeugen und hinterließ zur Erhöhung der Spannung auch fotografische Beweise.
Ajay/Vicky hat nun alle Hände voll zu tun, diese Zeugen und Zeugnisse zu beseitigen und geht dabei wirklich skrupellos und kaltblütig vor. Sein Blick, als er genüsslich das Foto verspeist, ist hochgradig gänsehautverursachend. Wieder kontrovers, man leidet nicht mit den Opfern, sondern wünscht ihm, er möge unerkannt entkommen. Das Dumme ist nur, das er sich diesmal wirklich verliebt. In Priya. Bei Selbstgesprächen, als er Ajay symbolisch zu Grabe trägt, werden wir Zeuge seiner inneren Zerrissenheit, denn leben tut Ajay/Vicky nur für seine Rache. (Die Einstellung mit den beiden unterschiedlichen Augenfarben ist einfach genial) Und als ihm Priya auf die Spur kommt, erfahren wir auch endlich mittels Rückblende den Grund seines Tuns.
Und diese Rechtfertigung unterscheidet Baazigar von seiner Vorlage A Kiss Before Dying grundlegend. Dort mordete der Protagonist aus reiner Geld und Machtgier. Hier hat er einen Grund. Gut, das macht die Morde nicht besser, aber verständlicher. Wir sind ja in Indien und in einem indischen Film. Rache wird hier anders verstanden, und zelebriert. Die Inszenierung der Geschichte und Shah Rukhs Darstellung macht ihn uns trotz seiner Taten sympathisch und deren Gründe erwecken Mitleid mit dem Jungen, dessen Leben und Tod vorgezeichnet war.
Wir erfahren seine ganze tragische Vergangenheit, das Madan Vickys Vater um die Firma gebracht, ihm Reputation, Haus, einfach alles, genommen hat und seine Mutter auch noch zu seiner Hure machen wollte, und das alles vor den Augen des Jungen.

Der Vater stirbt, wohl auch an gebrochenem Herzen, da er nicht mehr in der Lage ist, die Familie zu versorgen oder seine sterbende Tochter zu retten. Vickys Mutter zerbricht an diesen beiden Verlusten und zieht sich aus dem Leben zurück, erkennt selbst ihren Sohn nur hin und wieder und enthält ihm so auch die dringend benötigte Mutterliebe vor. Wir sehen den Jungen, der die letzten Riten seines Vaters begeht und eigenhändig die kleine Schwester beerdigt, der arbeitet, um der Mutter Medikamente besorgen und um Essen ranzuschaffen. Was ihn aufrechterhält, ist einzig der Gedanke an Rache. Den Fluch, den seine Mutter über Madan ausgesprochen hat, zu erfüllen. Ausgelöst durch den gebrochenen Eid, den Madan auf dem Haupt seiner Tochter Seema ausgesprochen hat, als ihn Vickys Vater auf Drängen der Mutter wieder in die Firma aufgenommen hatte. Und so war es auch Seema, die zum Mittel seiner Rache wurde. Ajay fungiert als Werkzeug seiner Mutter, vielleicht sogar einer höheren Macht, Madan als den eigentlichen Schurken in der Geschichte zur Strecke zu bringen, der Schuld ist am Unglück der Familie.

Dessen Kaltherzigkeit zeigt sich auch darin, wie er den Tod seiner Tochter aufnimmt. Er denkt nur an den Schaden seiner Reputation, falls er sich als Selbstmord herausstellt. Er ist an einer Aufklärung gar nicht interessiert. Als Vicky ihm mit seinem ureigenen Trick die Firma wegnimmt, reagiert er allerdings ganz anders als dessen Vater. Er zieht sich nicht kampflos zurück, sondern verfolgt und stellt Vicky vor den Augen seiner Mutter, die hierbei endlich aus ihrem Dämmerzustand gerissen wird, und leitet damit den ultimativen Showdown des Films ein, für den Shah Rukh höchstselbst verantwortlich zeichnet. Und der ist das wohl blutigste und brutalste, was ich jemals gesehen habe und tut körperlich weh. (Ich sag hier nichts zu Shah Rukhs Aversion gegen Glas jeglicher Art, hier wird wirklich alles zu Scherben verarbeitet, das greifbar ist, inklusive Aquarium) Vicky wehrt sich erst, als seine Mutter verletzt wird, mit ihrem Blut an seinen Händen mutiert er zum Racheengel und walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt, um Madan zu vernichten. Nicht einmal ein Eisenstab im Bauch kann ihn bei seiner Rache stoppen, er nimmt Madan mit in die Tiefe. Doch ganz Bollywood findet er irgendwie die Kraft, noch einmal aufzustehen und zu seiner Mutter zurückzuwanken, um in ihren Armen endlich die lang vermisste Liebe zu spüren und mit dem Wissen, ihren Fluch erfüllt zu haben, seinen Frieden findet und mit den Worten und der Stimme des kleinen Jungen, der er einmal war, einschläft.

Er hat gewonnen, aber zu welchem Preis. Obwohl dieser Tod sicher besser ist als der am Galgen, wo er trotz einleuchtender Motive sicher gelandet wäre. Doch hatte er jemals eine andere Wahl, einen anderen Weg einzuschlagen? Vielleicht hätte ihn die Liebe zu Priya geläutert, wenn nicht Madan im ungünstigsten Moment auftauchte. Doch hätte sie ihm den Mord an ihrer Schwester jemals vergeben können? Nein, das Ende ist schon ganz richtig so und nicht anders möglich.
Der Film ist eine grandiose schauspielerische Leistung des damals doch noch sehr jungen SRK. So glaubhaft in der ersten Hälfte zwei völlig gegensätzliche Figuren darzustellen, ist beachtlich. In den letzten Filmen hat er das ja weiter untermauert, was er damals schon zeigte. Er legte jede Figur eigenständig an, spielte sie differenziert und abwechslungsreich. Wie gesagt, die unterschiedlichen Augenfarben oder die dezente Brille hätte er gar nicht gebraucht. Seine Unterschiede sind viel subtiler.
Mit diesem Film hatte Shah Rukh sich in Bollywood etabliert und begann eine Serie von erfolgreichen Filmen, die bis heute außer ein paar Schluckaufs nicht abriss. Baazigar war auch die erste Zusammenarbeit mit Kajol, eine Paarung, die zwei Jahre später mit DDLJ zum Traumpaar schlechthin avancieren sollte. Außerdem hat Shah Rukh es mit diesem Film möglich gemacht, das der Held in Bollywood auch mal einen Schurken spielen kann und andersherum, ohne das es der Karriere schadet und hat damit einen Trend gesetzt. Damals kam es eigentlich beruflichen Selbstmord gleich, am Beginn seiner Karriere den Bösewicht zu spielen. Doch SRK hat es nicht geschadet, ganz im Gegenteil, es erlaubt ihm bis heute, immer mal wieder zwielichtige oder eindeutig böse Jungs zu spielen.

Als Comic Relief des Films dient wieder mal Johnny Lever. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Albernheiten lockern die Düsternis des Films zuweilen auf und sorgen für eine paar Lacher. Auch wenn der indische Humor noch immer gewöhnungsbedürftig ist. Dalip Tahil ist als Schurke der Geschichte gewohnt überzeugend und liefert einen guten Kontrast zum zweiten Schurken und sich mit Shah Rukh ein Wahnsinnsspektakel in der Climax.
Shilpa Shetty muss hier bei ihrem Debutfilm gleich mal über die Klinge springen, da es allerdings Shah Rukh war, der sie meuchelte, durfte das ihrer Karriere nicht geschadet haben. Man hatte einfach Bedenken, hier eine etablierte Schauspielerin abzumurksen. Diesen Karan überspring ich mal, da ich ihn überhaupt nicht mag. Seit Deewana sollte eigentlich jeder wissen, das stämmige Männer und Pullover a la Rishi nicht wirklich zusammenpassen… Er nervt einfach und hilft Priya leider auch noch auf ihrer Jagd nach dem Schuldigen. Und er liebt sie auch noch, pfui, weg damit. Allein der Gedanke, dass er nach Vickys Tod Priya bekommen könnte und mit ihr in den Sonnenuntergang reitet, ist mir zuwider.
Die Klamotten und Frisuren des Films sind teilweise unterirdisch und kaum erwähnenswert, auch wenn hier Gauri Khan für die Kostüme ihres Gatten verantwortlich zeichnet. Es sieht einfach nicht zeitgemäß aus. Doch die Musik von Anu Malik ist erwähnenswert. Die Songs sind meist passend in die Handlung eingebaut und teilweise auch richtige Ohrwürmer, wie Baazigar oh Baazigar. Allerdings sind die Klamotten in dem Song gewöhnungsbedürftig, SRK als Zorro schon wieder witzig in seiner Albernheit und der eingeritzte Schriftzug Priya in Vickys Brust schon fast obligatorisch. (Ob er wohl auch irgendwo Gauris Namen in seine wunderbare braune Haut eingeschnitzelt hat?)
Der Song Yeh kaali kaali ankhen ist wunderbar, nur der Gedanke, das er das Ende einleitet und Vicky eigentlich schon ein toter Mann ist, vergällt ihn mir immer wieder, so das ich ihn nie richtig genießen kann. Nur diese Klamotten, na ja, breiten wir barmherzig den Mantel des Schweigens darüber.

Hätte der Film auch ohne SRK so funktioniert und uns fasziniert? Ich denke nicht. Dann wäre er das geworden, als das er konzipiert war. Ein knallharter Rachethriller, an dem am Ende trotz Motiv die Gerechtigkeit zur Freude aller siegt. Dank Shah Rukhs Ausstrahlung, die nicht einmal in diesem Film unterdrückt werden konnte, wurde er zu einem beklemmenden, furchterregenden Balanceakt zwischen unserer Sympathie mit dem Protagonisten und unserer inhärenten moralischen Gesinnung. Ob es das war, was Abbas Mustan im Sinn hatten, als sie Shah Rukh besetzten? Ganz bestimmt haben sie nicht mit diesem riesigen Erfolg gerechnet oder gar Auszeichnungen.
Baazigar ist sicher kein Familienfilm und auch kein typischer Bollywood Wohlfühlfilm. Der Film zerreist uns das Herz und lässt uns am Ende heulend vor dem Bildschirm zurück, jedes einzelne Mal…